Die auferlegten Beschränkungen (höchstens 10 Künstler, nicht älter als 35 Jahre, maximal drei neue Arbeiten pro Künstler) machen es einem unmöglich, ein vollständigesBild von dem zu vermitteln, was sich im Augenblick auf dem Gebiet des Zeichnens in den Niederlanden abspielt Andererseits regen diese Beschränkungen dazu an, noch schärfer und kritischer zu selektieren zu dem Zweck, ein Bild von einigen Aspekten der niederländischen Zeichenkunst heute in ihrer Verschiedenartigkeit und von der Qualität her zu bekommen. Es ist eine besendere Herausforderung, die Arbeiten junger Künstler zu zeigen, da ihr Werk sich in den meisten Fällen noch in der Entwicklung befindet,seinen Weg noch suchen muB und daher leicht verletzlich ist. Natürlich ist es unmöglich,einen Künstler anhand von ein paar Zeichnungen wirklich gut zu charakterisieren; wohl wirdein Eindruck von dem gegeben, was ihn beschäftigt, und davon, wie er seine ldeen/Gefühle verbildlicht. Die ausgewählten Künstler haben mehr oder weniger miteinander gemeinsam, daB sie das “ Zeichnen” als autonome Aktivität auffassen, Zeichnen um des Zeichnens willen. lm Gegensatz zu der untergeordneten Rolle, die der Zeichenkunst Jahrhunderte lang zugeteilt wurde, nämlich als Vcrstudie oder Skizze, sind diese Zeichnungen dadurch gekennzeichnet, daB ihr Wert als selbständiges Werk anerkannt ist. Es geht um den objektiven Begriff der Zeichnung an sich: die Zeichnung als eine rein visuelle Gegebenheit, deren Bedeutung einzig und allein in ihr selbst liegt. Die Künstler sind nicht darauf aus, technische Glanzleistungen oder realistische Abbilder der Wirklichkeit zu zeigen, oder allerlei symbolische ode’r illusionistische Hinweise zu geben. Wichtig ist, wie sie mit dem Zeichenmaterial umgehen, ihm lnhalt geben. Es geht um die Handlung des Zeichnens in Verbindung mit einem deutlichen Formgestaltungsprinzip. Aus einer bestimmten Mentalität heraus beschäftigen sie sich mit dem Zeichnen, was nicht nur eine freiere Benutzung des Materials mit sich bringt, sondern auch dazu führt, daB ästhetische Normen und Auffassungen über Bord geworfen werden. Nicht länger bestimmen Schönheit oder technisches Können die Qualität des Kunstwerks, sondern die zielbewuBte und geeignete Visualisierung von ldeen und lntentionen. Die Arbeiten von Jan Commandeur sind gekennzeichnet durch eine skizzenartigeForm, wolligen Farbgebrauch und durch Scharfsinn für das Malerische. Die Acrylzeichnungen voller pflanzlicher Motive, so abstrahiert, daB sie sich nicht mehr direkt als solche erkennen, wohl aber erahnen lassen, sehen wie eine bunte Farbenmasse aus, die aber gut geordnet und ausgeglichen und mit Gefühl für Farbe und Komposition angelegt ist. Bei Floor van Keulen liegt der Nachdruck auf dem ArbeitsprozeB und den FormAssoziationen. Die Darstellungen werden unmittelbar aufs Papier gesetzt. Er hat zwar ein Bild vor Augen, wie es ungefähr werden könnte, aber das i st nicht mehr als eine Art Grundgedanke. Die Bilder wachsen spontaii und ungehemmt, während er arbeitet. Aus der einen Form entsteht, durch fortwährende Assoziationen, die nächste, und das führt zu farbigen und komplexen Vorstellungen. Cecile van der Heiden befaBt sich in ihren groBen, spontan ausgeführten (nicht im voraus geplanten) Kreidezeichnungen eingehend mit einer Anzahl von Basiselementen wie Linie, Fläche, Farbe, Licht, Bewegung. Bestimmepde Faktoren sind Handschrift, Zeichenhandlung und Zeichentempo und die Struktur (offen und verdichtet) von Linie und Farbe. Die Collagen von Marlene Dumas, gezeichnet und ausgeschnitten, haben trotz ihrer etwas sorglosen Ausführung eine eigenartige Spannung: sowohl in der Kombination der zur Abstraktion tendierenden Formen mit realistischen Elementen wie Fotos aus Zeitungen und Zeit- ..schriften, als auch in der Art und Weise,wie scharfe Beobachtungen in eine romantische, poetische Atmosphäre gebracht werden. lm allgemeinen sind es ganz persönliche Erfahrungen – ein bestimmtes Bildoder Ereignis, das sie trifft – ,die zum Ausgangspunkt für eine Lawine von Assoziationen und Variatienen werden. Die Zeichnungen von Leo Vroegindeweij laufen mehr oder weniger parallel zu seinen Skulpturen: einfache Formen, die Kraft und Gegenkraft sichtbar machen. Piet Dieleman beschäftigt sich vor allem mit der Struktur der Zeichnung. In einem expressionistisch gefärbten Stil und in einer etwas rauhen Ausführung werden Figuren, meist in statischen Positionen, in eine straffe Komposition hineingesetzt. Die Zeichnungen von René Dan i els sind mit lockerer Hand ausgeführt, voller Schwung und Bewegung. Als Themen wählt er mei st alltägliche Motive; die Zeichnungen sind als Vorstudien zu seinen Gemälden gemeint. Die Bedeutung der Motive ist dabei weniger wichtig: sie dienen einerseits als Rahmen, um Aufbau und Zeichenhandlung im Grift behaiten zu können, andererseits bieten sie die Möglichkeit, eine Struktur aufzubauen, die gewisserrnaBen gefühlsm.Big zustande kommt und über das Anekdotische hinausgeht.
Karel Schampers•
Aus dem Niederländischenvon Anne Stolz